Ich will euch heute eine Geschichte erzählen, die ich neulich selbst erzählt bekam und die mich daran erinnerte, wie wichtig und wie schön es ist, sich liebevoll seinen „Holzpflock“ anzuschauen und auch immer mal wieder darüber zu schmunzeln:

Der angekettete Elefant

„Es war einmal ein kleiner Junge, der liebte es in den Zirkus zu gehen. Vor allem liebte er die Tiere im Zirkus und am meisten faszinierten ihn die Elefanten.

Besonders seinen Lieblingselefanten seines Lieblingszirkus beobachtete er eines ums andere Mal ganz genau. Während der Vorführung zeigte der Elefant seine unglaubliche Stärke, indem er riesige Baumstämme in die Luft warf, schwerste Gewichte hoch hob und mit einer unfassbaren Leichtigkeit durch die Manege zog. Doch nach der Vorführung und kurz bevor er wieder in die Manege gelassen wurde, um seine Stärke unter Beweis zu stellen, stand er angekettet an eine kleine Kette, die um eines der schweren Beine geschlungen, mit einem winzigen Pflock in den Boden gerammt war. Wie konnte es sein, dass dieses so unglaublich starke Tier sich von einer kleinen Kette und einem lächerlich kleinen Holzpflock, der nur wenige Zentimeter in den Boden gerammt war, beeindrucken ließ? Es erschien dem Jungen offensichtlich, dass ein Tier, das fähig war, einen ganzen Baum auszureißen, sich problemlos von der Kette befreien und ausreißen konnte. „Was veranlasst den Elefanten, da zu bleiben?“ Fragte er sich immer wieder, „warum flieht er nicht?“ Mit seinen sechs Jahren glaubte der Junge noch an die Weisheit der Erwachsenen und fragte seinen Lehrer, seinen Vater, seinen Onkel…was es mit diesem Rätsel auf sich habe. Aber die meisten wussten keine Antwort. „Das liegt daran, dass er gezähmt ist“, wusste einer zu erklären. „Aber, wenn er doch gezähmt ist, und deshalb nicht fortläuft, warum ist er dann überhaupt angekettet?“, folgte die offensichtliche Frage unseres verstehensdurstigen Jungen. Aber auch darauf erhielt er keine befriedigende Antwort.
Der Junge vergaß mit der Zeit die Frage um den Elefanten. Erst Jahre später fiel sie ihm wieder ein, als er an einem Zirkuszelt vorüberging, vor dem ein großer Elefant angebunden an eine, mit einem kleinen Pflock in den Boden gerammte, kleine Kette stand. Neben dem Elefanten saß ein alter Clown und blinzelte in die Sonnenstrahlen. „Vielleicht kann er mir das Mysterium des angeketteten Elefanten erklären“, dachte sich der inzwischen groß gewordene Junge und trat entschlossen auf ihn zu, um endlich eine weise Antwort auf seine Frage zu erhalten: „Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er an diesen kleinen Pflock angekettet ist, seit er ganz klein war“, erklärte ihm der weise Clown. „Der Elefant wurde direkt nach seiner Geburt an diesen Pflock angekettet. Damals zog und zerrte er an ihm, machte alle erdenklichen Anstrengungen, um sich zu befreien. Aber damals hatte er noch nicht genug Kraft. Die Kette und der Pflock waren noch stärker als er. Am Abend schlief er erschöpft ein, um am nächsten Morgen erneut den Kampf aufzunehmen, und am nächsten Morgen, und am nächsten….bis er eines Tages, eines traurigen Tages, aufgab, und ob seiner Machtlosigkeit gegenüber seinen Fesseln, resignierte.
Dieser riesige, kräftige Elefant, den wir in der Manege bewundern, befreit sich nicht von seiner Kette, weil er glaubt, dass er es nicht kann!“ [1]


[1] Quelle: Jorge Bucay (2007): Komm ich erzähl dir eine Geschichte, Fischer Verlag, S. 11.